Neuer Kurs

Neuer Kurs
I
Neuer Kurs
 
Als Wilhelm II. im März 1890 den Reichskanzler Otto von Bismarck entlassen hatte, verkündete er, er werde den bewährten Kurs fortsetzen. Aber es kam dann doch sowohl in der Innen- wie in der Außenpolitik zu grundlegenden Veränderungen, die als »Neuer Kurs« bezeichnet wurden und die im Zusammenhang mit dem von Wilhelm II. angestrebten »persönlichen Regiment« standen.
 
Ursprünglich war die Bezeichnung »Neuer Kurs« vor allem auf innenpolitische Maßnahmen bezogen, die im Gegensatz zur Innenpolitik Bismarcks neue Wege anzeigten und eine Politik der Versöhnung mit der Arbeiterschaft sowie mit anderen Gruppen der Gesellschaft anstrebten, die zu Bismarck in schroffer Opposition gestanden hatten. Das Sozialistengesetz wurde nicht wieder verlängert. Mit einer umfangreichen Arbeiterschutzversicherung sollte die Masse der Industriearbeiter von der Sozialdemokratie, die in der Reichstagswahl vom 20. Februar 1890 soeben die stärkste Partei geworden war, getrennt und mit dem Staat versöhnt werden: generelles Verbot der Sonntagsarbeit für Kinder und der Fabrikarbeit für Kinder unter 13 Jahren, Begrenzung der Arbeitszeit für Frauen auf elf Stunden täglich, für Jugendliche unter 16 Jahren auf zehn Stunden. Gewerbegerichte sollten zukünftig betrieblichen Streit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern schlichten. Als es nicht gelang, die Arbeiterschaft der Sozialdemokratischen Partei zu entfremden und die Sozialdemokratie ihre Opposition gegen die Regierung nicht aufgab, verlor Wilhelm II. bald sein Interesse an dem sozialen Programm (siehe auch Bismarck: Kolonialpolitik) und ging wieder zu der repressiven Politik Bismarcks über.
 
Die im »Neuen Kurs« besonders von dem Nachfolger Bismarcks, Reichskanzler Graf Leo von Caprivi, betriebene Handelspolitik schuf mit der Öffnung der Auslandsmärkte für die deutsche Industrie bei gleichzeitiger Auflockerung der bisherigen Schutzzollbestimmungen die Voraussetzung für den Aufschwung der deutschen Wirtschaft, rief aber auch den heftigen Protest der Großgrundbesitzer hervor, die im 1893 gegründeten »Bund der Landwirte« eine mächtige konservative Interessenvertretung besaßen.
 
Verhängnisvoll wirkten sich die im »Neuen Kurs« vorgenommenen Veränderungen in der deutschen Außenpolitik aus, vor allem die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland. Die neue Regierung glaubte, der Rückversicherungsvertrag mit Russland widerspreche den mit Österreich-Ungarn geschlossenen Vereinbarungen und schütze das Deutsche Reich nicht vor einem französischen Angriff. Der Kaiser schloss sich dieser Ansicht an. Obwohl Russland zu Zugeständnissen bei der Neufassung des Vertrages bereit war, beharrte die deutsche Seite auf der Ablehnung, die zudem noch in undiplomatisch schroffer Form mitgeteilt wurde. Der fast zeitgleich ausgehandelte Tauschvertrag zwischen Deutschland und England, in dem das Deutsche Reich gegen die Abtretung ostafrikanischer Gebiete (u. a. auch die Anerkennung des englischen Einflusses auf Sansibar) die Insel Helgoland erhielt (1. Juli 1890), schien Russland ein deutlicher Beweis dafür zu sein, dass die neue deutsche Reichsregierung jetzt die britische Freundschaft der russischen vorzog. Da zwischen Russland und Großbritannien erhebliche Spannungen wegen ihrer Interessengegensätze im Vorderen Orient und in Ostasien bestanden, verstärkte Petersburg jetzt seine Kontakte zu Paris. Damit war das kunstvoll geknüpfte bismarcksche Bündnissystem zerbrochen; mit der Verbindung zwischen Russland und Frankreich war für das Deutsche Reich die Gefahr des Zweifrontenkrieges akut geworden. Dem Kaiser und der Regierung gelang es jedoch nicht, die Verbindung zu Großbritannien zu intensivieren und Großbritannien für ein Bündnis mit Deutschland zu gewinnen.
 
Als im Juli 1893 ein drohender Konflikt zwischen Großbritannien und Frankreich um Siam friedlich beigelegt und der Besuch eines russischen Geschwaders in Toulon im Oktober des gleichen Jahres ohne britischen Protest verlief, musste die Reichsregierung erkennen, dass ihre Außenpolitik gescheitert war. Der Versuch, sich über wirtschaftliche Zugeständnisse wieder an Russland anzunähern, scheiterte ebenfalls.
II
Neuer Kurs,
 
1) Bezeichnung für die nach Bismarcks Sturz durch Reichskanzler L. von Caprivi (1890) entscheidend mitbestimmte Umorientierung der Innen-, Sozial-, Wirtschafts- und Kulturpolitik, wodurch unter Wahrung der konstitutionellen Regierungsform die bisherige Opposition gewonnen und auch Zeitströmungen Rechnung getragen werden sollte.
 
 
J. C. G. Röhl: Dtl. ohne Bismarck. Die Reg.-Krise im 2. Kaiserreich 1890-1900 (a. d. Engl., 1969).
 
 2) Bezeichnung für die vom sowjetischen Ministerpräsident G. M. Malenkow nach dem Tod Stalins (1953) eingeschlagene innenpolitische Linie, die v. a. auf eine Steigerung der Konsumgüterproduktion zulasten der Schwerindustrie, auf steuerliche Erleichterungen für Bauern und einen Schuldenerlass für die Kolchosen gerichtet war. Die Politik des Neuen Kurses, bereits 1955 als politisch verfehlt verworfen (Ablösung Malenkows), stand in enger Verbindung mit der Politik des Neuen Kurses in der DDR.
 
 3) Bezeichnung für die vom Politbüro der SED auf Initiative der sowjetischen Regierung unter G. M. Malenkow am 9. 6. 1953 beschlossene, nach dem Aufstand vom Siebzehnten Juni 1953 am 26. 7. 1953 bestätigte politische Linie, durch die die bedrohte innere Stabilität der DDR gesichert werden sollte. Die Maßnahmen stellten u. a. in Aussicht: Erweiterung der Planauflagen für die Leicht- und Konsumgüterindustrie, Rücknahme der Kampfansage an den besitzenden Mittelstand, stärkere Entfaltung des privaten Handels, Stopp der Kollektivierung der Landwirtschaft, eine flexiblere Kirchenpolitik, beschränkte Amnestie. Nach dem Sturz Malenkows (1955), dem v. a. eine Vernachlässigung der Schwerindustrie vorgeworfen worden war, machte die SED ihren Neuen Kurs rückgängig und ging forciert zum »Aufbau des Sozialismus« über.

Universal-Lexikon. 2012.

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